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Vorsicht bei Empowerment für Kinder und Jugendliche: „Mit Selbstbewusstsein Rassismus entgegentreten…“ (aka: „Hör nicht auf die. Sei stark.“)

    Vorab: Dieser Artikel bezieht sich auf das ‚Fördern‘ von Selbstbewusstsein. Es gibt auch Selbstbewusstseinsarbeit, die sich mit augenscheinlich übersteigertem Selbstbewusstsein (entitlement) beschäftigt, hierum dreht sich dieser Text nicht.


     

     
    Es ist eine tolle Sache, Kinder und Jugendliche in ihrem Selbstbewusstsein zu unterstützen.

     

     

    Hier ein paar ganz raue Regeln für alle, die etwas zu ‚Selbstbewusstsein‘ von Kindern und Jugendlichen of Color organisieren wollen. Kein Anspruch auf Vollständigkeit I-:

     

     

     

    • Koppelt den Kurs zu ‚Selbstbewusstsein‘ um Himmels Willen nicht an Rassismus oder sonstige Diskriminierungen, nach dem Motto „selbstbewusst gegen Rassismus“. Warum, erkläre ich unten.

     

    • Jugend-‚Selbstbewusstseins‘-Arbeit braucht qualifizierte Coaches. Lasst Euch die Referenzen zeigen und Kontakte geben von Eltern von bisherigen Teilnehmenden, oder Teilnehmenden direkt, wenn sie alt genug sind (und darauf lust haben). Nehmt nicht auf die leichte Schulter, wer an der seelischen Konstitution von Kindern arbeiten soll. Keinen Qualitätscheck zu machen, ist unverantwortlich. Wenn es um Diskriminierung geht, soll die Person, die coacht, davon Ahnung aus erster Hand und eigener Erfahrung haben.

     

    • Vermeidet für empfindliche Themen wie ‚Selbstbewusstssein‘ zufällige Gruppen. Wenn die Teilnehmenden sich nicht schon kennen und alle in der Gruppe einschätzen können, ist die Chance höher, dass sie sich gegenseitig versehentlich traumatisieren. Ihr mögt es nicht mitbekommen, es passiert aber täglich, und muss nicht von der Orgaperson erkannt werden, um mensch das Leben schwer zu machen.

     

    • Wenn es um rassistische Diskriminierung geht, bildet getrennte Gruppen.
      Die Ängste und Schwierigkeiten sind zu unterschiedlich. Oft werden die Kids of Color in gemischten Gruppen -ironischerweise gerade wenn es um das Thema Diskriminierung geht- übergangen. Sie erfahren dadurch, weder Deutungsmacht noch Wichtigkeit betreffend ihrer eigenen Lebenserfahrungen zu haben. Fast immer nehmen die Sorgen derer, die nicht rassistisch diskriminiert werden, überproportional viel Raum ein.

    Auch wenn die Coaches darauf achten, dass das nicht passiert, ist deswegen noch nicht alles in bester Ordnung. Junge Leute (lies: Menschen generell) sind sich oft nicht bewusst, welche nachteiligen Folgen es für sie haben kann, sich vor jedweden Leuten zu offenbaren und im ungeschützten Raum ihre schlimmen Erlebnisse mitzuteilen. Die Situation in der gemischten Gruppe ist viel zu assymmetrisch. Um über das Thema ‚sprechen‘ zu können, müssten die einen ihre schlimmsten Wunden auspacken, und die anderen nicht. Um genauso viel zu lernen wie die weißen Teilnehmenden, müssten die Teilnehmenden of Color sich überproportional exponieren. Nicht ok.

     

    • Wenn rassistische Diskriminierung gar nicht thematisiert wird, ist der ‚Selbstbewusstsein‘-Kurs für Jugendliche of Color Science-Fiction, entspricht nicht der Lebenswirklichkeit, negiert einen Großteil ihrer Herausforderungen. Es soll ein organischer Teil des Kurses sein, wie es auch ein Teil des täglichen Erlebens ist. Achtung, das ist keine Einladung dazu, Zusammenhänge zwischen ‚Selbstbewusstsein‘ und (dem Erleben von) Rassismus herzustellen! (siehe weiter unten)

     

    • Ein Raum ist nicht geschützt, wenn die Workshopleitung das sich gewünscht hat, sondern wenn sie intersektionell und pädagogisch sehr, sehr viel Erfahrung, Praxis und den Mut zu Korrekturen potenziell gefährdender Dynamiken hat. Sie muss diese vorausahnen können, bemerken, wenn sie losgehen, eingreifen, ohne dabei zu verstören, aber deutlich genug, um ein (auch didaktisches) Zeichen zu setzen. Das können nur leider nicht alle, die ‚gern mit jungen Leuten was machen‘ (siehe Position 1).

     

    • Werdet Euch im Vorfeld darüber klar, wie Eure eigenen Qualifikationen dahingehend eigentlich sind, und wie ihr Euch zu den Coaches positioniert. Macht Euch darauf gefasst, dass es auch Teilnehmende geben wird, die zu Hause semibegeistert berichten und Inhalte natürlich verkürzt wiedergeben: „Papa, die hat gesagt, das Wort XY ist rassistisch!!!“„Das kann ja wohl nicht sein. Hör auf zu weinen, diesen Leuten werde ich es gleich mal zeigen!“ Es sind nicht alle Eltern begeistert über Befreiungswissen, -Techniken und progressive und selbststärkende pädagogische Ansätze. Das umfasst natürlich auch Eltern of Color.

     

    Wie kommt es zu dieser kleinen Handreichung?

    Aus aktuellem Anlass, weil mich in den ersten Januarwochen schon mehrere Anfragen und Ankündigungen erreicht haben, die ähnlich formuliert und gerichtet sind. Hier noch ein paar ganz grundlegende Gedanken dazu:

     

    Es ist sehr gut, dass wir jetzt auch in der BRD langsam so weit sind, unsere Energien und Mittel in der Antirassismusarbeit denen zuzuwenden, die davon belastet werden: Menschen of Color. Um das aber gut überlegt zu tun und nicht versehentlich schon wieder in die nächste Falle in der Sendereihe ‚gut gemeint aber nicht hilfreich’ zu tappen, muss zuerst einmal die Haltung zum Problem und Lösungsansatz überprüft werden.

     

    Es ist wichtig, dass wir uns selbst und gegenseitig davon unterrichten, was uns in welchen Lebenslagen geholfen hat, welche Gefahren es gibt, und welche Ansätze schon erprobt wurden, diesen Gefahren zu begegnen. Diasporisches Überleben hing schon immer davon ab, dass diese Arbeit intergenerationell getan wurde. Es ist oft wohltuend und hilfreich, zu erfahren, welche verschiedenen Dinge manche Menschen tun oder denken, um sich zu stabilisieren, durch den Tag zu bringen, gut zu fühlen, usw. Dagegen greift der „Selbstbewusstsein“-Ansatz im Diskriminierungskontext daneben – wenn er Anforderungen impliziert. Und das passiert gerade leider mehreren Projekten (natürlich versehentlich).

     
    Ob ‚Empowerment‘ erreicht werden soll, ob es um ‚Handlungsmöglichkeiten‘ geht oder ob eine ‚Stärkung des Selbstbewusstseins‘ erfolgen soll – es ist essentiell, dass bei allen diesen prinzipiell freundlich gemeinten Ansätzen nicht dem Volksmärchen anheimgefallen wird, dass Rassismus durch genügend Selbstoptimierung weniger wirkmächtig wäre.

     

    Wenn mit persönlicher Stärke und Selbstbewusstsein Rassismus entschärft werden könnte, wären viele unserer Schwestern noch am Leben.

     

    Zusätzliche Anforderungskataloge („lerne, selbstbewusster zu sein.“) erzeugen zusätzlichen Druck bei denen, die schon mehr Druck als genug haben. Oft bekommen wir im Alltag ungefragt ‚Handlungsempfehlungen gegen (unsere eigene) Diskriminierung‘, mit widersprüchlichen Botschaften: Sei ruhig. Ignorier das einfach. Bleib im Dialog. Grenz dich ab. Zeig deine Gefühle. Sei einfach besser. Sei gut zu dir. Geh auf den anderen ein. Kümmer dich nicht darum. Pack es beherzt an. 

     

    Ein zusätzliches (und zufälliges) Maneuverpapier zum Diskriminierungsabbau durch persönliche Haltung wird den Druck nicht verringern. 

     

    „Niedriges Selbstbewusstsein – du solltest dich verbessern“, ist viel zu kurz gedacht. Und es folgt daraus regelmäßig: „ich zeig dir jetzt, wie du dich hoffentlich ändern kannst, und wenn dir das nicht gelingt, stimmt noch eine Sache mehr nicht mit dir.“

     

    In einigen Ansätzen der Kids-of-Color-„Selbstbewusstsein“-Projekte, die ich gesehen habe, schwingt unter der Oberfläche mit, dass die Diskriminierten überhaupt Antworten auf Diskriminierung zu formulieren hätten. Daraus folgert sich rasch: Wenn wir schlau, informiert, stark und super genug sind, können wir auch das wegstecken/überleben/ignorieren. Also alles halb so wild. Streng dich halt mehr an.

     

    „In diesem Kurs lernen wir, wie wir uns vor Rassismus wehren können.“ – Solche Texte sind nicht ungefährlich. Sie verheißen, dass es Rezepte gäbe. Können den Eindruck erwecken, als wäre mit genügend Willen™ das Trauma von Ausgrenzung und Bedrohung bezwingbar. Rassismus ist ja aber nur deswegen so wirkmächtig und schlimm, weil dies eben nicht der Fall ist. Weil es keine Rezepte, keine ‚gute-Entgegnung‘, keinen universal erwerbbaren Schutz gibt.

     

    Globales Mobbing verschwindet nicht durch eine persönliche Haltung der Gemobbten.

     

    Es ist zudem ein überaus wichtiger Unterschied, ob „für“ / über „Selbstbewusstsein“ mit Erwachsenen oder mit Kindern/Jugendlichen gearbeitet werden soll. Minderjährige leben nicht autonom, u.a. weil die Gesetze es ihnen nicht erlauben. Aus vielen Gründen kann ihnen nicht plötzlich die ganze Verantwortung für ihre seelische Konstitution auferlegt werden. „Hey, du darfst zwar nicht deinen Aufenthaltsort oder sonst etwas in deinem Leben bestimmen, bisher wurdest du absolut fremdbestimmt, aber wie’s dir dabei geht, ist schon deine eigene Verantwortung!“ – #unrealistisch #nichthilfreich

     

    Wichtig: Eine Form oder Ausprägung von „Selbstbewusstsein“, die sich nicht unmittelbar überall allen offenbart, kann eine Überlebensstrategie sein.

     

    Bevor Selbstbewusstsein „gefördert“ werden soll, muss zuerst einmal die Überlebensleistung anerkannt werden.

     

    Sprechen über, motivieren zu, fördern von Selbstbewusstsein – das ist erst dann hilfreich, wenn es freiwillig geschieht und in dem Verständnis und der Anerkennung, dass es Gründe gibt, warum die Person so ist wie sie ist. Von außen passiert es zu leicht und schnell, Leistungen zu Defiziten zu erklären sowie ‚Schwächen‘ und Stärken fehlzuinterpretieren. Wenn das nicht präsent ist, kann solche Arbeit zu einer verdeckten Beschuldigung führen derjenigen, die sie unterstützen will. 

     

    Differenziertheit und umfangreiches (= nicht nur angelesenes) Wissen über die Gestalt von diversen Überlebensstrategien ist Voraussetzung dafür, das Thema – vor allem mit jungen Menschen – halbwegs safe besprechen zu können. Beim Umgang mit Erwachsenen schadet das im Übrigen auch nicht. Sie haben zwar andere Lebenssituationen, Pflichten, Rechte und Verantwortung – auch für ihr Innenleben -, es wäre aber nicht schlecht, öfter daran zu denken, dass auch viele Menschen über 18 unfreiwillig fremdbestimmt leben #eingeschränkteBürgerrechte, und dass das Selbstbewusstsein Privatsache ist, die im Zweifelsfall keine_n etwas angeht. 

    Freilich gibt es noch viele weitere Voraussetzungen dafür, derartige Arbeit qualifiziert verrichten zu können, wie z.B. intersektionelles Wissen und die Fähigkeit, Leute zu schützen und aufzufangen, die sich gerade einer nicht ganz safen Gruppe versehentlich zu weit offenbart haben. Ich wünschte, alle Organisierenden solcher Kurse würden darauf sorgfältig achten, wenn sie die Referierenden/Coaches auswählen (und wenn sie ihren Ansatz formulieren). Besonders, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Daher das kleine Memo eingangs.

     

    Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich finde es enorm wichtig, dass Diskriminierte – selbstverständlich auch Kinder und Jugendliche – Hilfe erhalten, wenn sie ihr Selbstbewusstsein verändern möchten. Aber nicht zu dem *Zweck*, Rassismus oder irgendetwas anderes zu bekämpfen, zu begegnen oder zu parieren. Nicht, um den Fehler im System zu kompensieren. Wenn wir uns mit uns selbst beschäftigen, sollen wir eben NICHT denken: „wie kann ich gut reagieren, rüberkommen, diese und jene Angriffe vermeiden, schneller schalten, **besser** in irgendetwas werden.“ 

    Selbstbewusstseinsarbeit muss Selbstzweck sein. Um das eigene Leben und die eigenen Beziehungen wunschgemäß gestalten zu können. Nicht, um möglichst resilient zu werden oder Interaktionen mit aggressiven Leuten zu überstehen. Denn das ist eine andere Arbeit. Der Unterschied zwischen den beiden Ansätzen mag gering aussehen (auch, weil wir mehrheitlich nicht gelernt haben, in diesen Fragen überhaupt zu differenzieren), wirkt sich aber enorm aus. Selbstbewusstsein zu (v)erlangen und Überlebensskills zu fördern, ist nicht dasselbe.

     

    (Am Rande: Selbstbewusstsein, das sich primär auf Widerstand bezieht, ist kein Selbstbewusstsein, sondern Außenbewusstsein).

     

     

     

    Kurz und abschließend noch die politische Dimension

     

    Afrodiasporische und als „arabisch“/“muslimisch“ gelesene Menschen (darunter selbstredend auch Jugendliche) werden aufgrund von Rassismus überproportional als gefährdend, bedrohlich, zu laut, ‚zu viel‘, zu präsent, etc. betrachtet und behandelt. Wenn sie sich ’selbstbewusst benehmen‘, verstärken sich Aggressionen und Unverständnis von außen. Wenn sie ’nicht selbstbewusst‘ (was immer mensch darunter verstehen möge) ‚erscheinen‘, werden sie wahrgenommen, als hätten sie ein Defizit, und sollten nun flugs lernen, zu beeinflussen, wie sie Rassismus erfahren.

    Wenn Institutionen wie zum Beispiel die Schule ein Programm aufrufen, um das ‚Selbstbewusstsein‘ ihrer ‚migrantischen‘ Schüler_innen mithilfe externer Coaches zu ‚fördern‘, heißt das zum Einen, dass sie sich dafür selbst nicht zuständig sehen. Und zum Anderen, dass sie finden, dass an speziell diesen Schüler_innen etwas optimiert werden müsste (anstatt an der Schule).

    Es liest sich auf der ersten Blick gut. Nicht immer steckt dahinter aber auch der ehrliche Wille, sich in einen Prozess zu begeben, der allen etwas abverlangt, nicht nur den ‚migrantischen Jugendlichen‘. Das kann auch schnell zu weiterer Stigmatisierung führen.

     

     

    Tipp: Wenn die Schule nicht gleichzeitig eine rassissmuskritische Fortbildung für das Lehrpersonal durchführt, ist zu Misstrauen gegenüber dem Selbstbewusstseinskurs für Schüler_innen ‚mit Migrationshintergrund‘ zu raten.
    Appell: Erkennt den Double-Bind, der in den Unterstellungen von wahlweise „zu laut“ oder „zu wenig selbstbewusst“ liegt. Überlegt lange und gründlich, welche Räume, Konstellationen und Coaches der Aufgabe wirklich gerecht werden. (Eine wichtigere Aufgabe gibt es ja kaum). Und: Macht den jungen Leuten ruhig auch mal Angebote, die auf ihren (anonym abgefragten!) Wünschen basieren, statt auf Annahmen. 

     

     

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