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Kunst braucht keine Erlaubnis. Sie gehört Euch bereits. Interview in »other stories«

    zur Jurymitgliedschaft beim Plakatwettbewerb „Mensch, Du hast Recht(e)!“ (inzwischen ein mobiles Lernlabor) der Bildungsstätte Anne Frank

     

    Liebe Noah Sow, was hat Sie eigentlich motiviert, in der Jury zu einem Nachwuchskunstwettbewerb dabei zu sein?

    Besonders motiviert hat mich die Hoffnung, eine Perspektivvielfalt in den Arbeiten, Ansätzen und Gedanken junger Leute zu sehen. Sogar in der politischen Arbeit und Bildung ist es noch viel zu oft so, dass die Mehrheitskultur „über andere“ spricht, bastelt, mahnt und proklamiert. In dem Wettbewerb habe ich die Chance gesehen, dass jetzt einmal die, um die es bei dem Thema immer geht, selbst plakativ und sichtbar werden, dass er die Stimmen derer verstärkt, die die Problematik nicht umgesetzter Menschenrechte am besten kennen, weil sie selbst darum kämpfen müssen. Menschen, die mehrfach diskriminiert werden, wie zum Beispiel junge migrantisierte Frauen, Queers die behindert werden, illegalisierte geflüchtete Jugendliche. Durch ihre vielfältigeren Erfahrungen haben sie auch mehrfache Wissenszugänge zu Politik und Gesellschaften. Denen kann keiner was erzählen. Das sind die wichtigsten Stimmen und die hört die Öffentlichkeit bislang am wenigsten an.
    Es gibt auch feste Vorstellungen darüber, wer welche Kunst zu machen hat. Plakate sind von männlichen Grafikern zu gestalten. Moderne abstrakte Kunst hat aus Europa oder Amerika zu kommen. Südamerikanische Bilder haben bunt und anschaulich, leicht nachvollziehbar und fetischisierbar zu sein. Und so weiter. Ich habe mich über den Wettbewerb gefreut, weil er mithelfen kann, zu korrigieren, wie und von wem welche Art der Gestaltung überhaupt abgefragt wird.
    Auch verschwenden wir in Deutschland noch viel zu oft Zeit mit der absolut albernen Frage „wie politisch ist Kunst“? Ich fand es sehr gut, dass dieses Ablenkungsmanöver bei dem Wettbewerb gar nicht erst beachtet wurde, indem er explizit begriffen und unterstützt hat, dass Kunst und Kreativität selbstverständlich immer genau so politisch sind wie die Menschen, die kreativ arbeiten, dies im Gesamtgefüge nun einmal sind.

     

    In Ihrem Vortrag „Kunst ist für alle da!“ am Abend vor der Preisverleihung ging es auch um die Unmöglichkeit, Kunst überhaupt bewerten zu können – insbesondere, wie Sie halb-ironisch dazu bemerkt haben, wenn man über 30 Jahre alt ist. Dennoch haben Sie als Jurymitglied einen Weg finden müssen, Punkte zu vergeben und Favoriten zu bestimmen. Wie sind Sie mit diesem Widerspruch umgegangen – und welche Kriterien haben Sie für sich entwickelt?

     

    Es ist in Deutschland immer noch eine beliebte Spielart der Selbsterhöhung, Kunst einordnen zu wollen in „hohe Kunst“ und untergeordnete Kunst. Die „nicht-pure“ Kunst wird dafür mit Namen markiert wie „Kunsthandwerk“, „Kitsch“, „Gebrauchskunst“, „Trash Art“, „Bad Taste Art“ und so weiter. Ich finde das eine ganz ungute Haltung, gerade im Hinblick auf Deutschlands Geschichte im Umgang mit Kunst und Kulturen.
    Um legitim zu bewerten, war es daher unbedingt notwendig, dass ich mir klar machte, welche Kriterien ich überhaupt anwenden kann. Um meinen Geschmack ging es dabei dann eher nachrangig.

    Einige Kriterien, die ich für mich entwickelte, waren:

    Übereinstimmung von Message mit Umsetzung: Ist es beispielsweise Intention, Respekt zu erzeugen, aber es sind Fotos von nackten Kindern im Bild? Das wäre dann nicht geglückt.

    Wurden konditionierte Blickhierarchien überwunden?

    Wurden die Verantwortlichkeiten durchdacht? Fordert der Plakattext zum Beispiel die Belasteten auf, eine bestimmte Haltung einzunehmen, so würde das die Verantwortlichkeit verzerren.

    Erfolgt eine selektive Ansprache und an welche Gruppe?

    Ausschlusskriterium: sind potenziell retraumatisierende Bilder oder Worte enthalten?

    Zeigt die Arbeit einen differenzierten Blick auf das Thema? Wie intersektionell ist das gewählte Thema? Ist es fishing für positive Resonanz durch Platitüden, oder ein mutiges Statement?

    Wurde bei der Umsetzung das Naheliegendste gewählt oder um die Ecke gedacht? Ist das Poster nur plakativ oder ist es auch irritierend und hat dadurch eine Nachwirkung in den Betrachtenden?

    Welche Bildsprache wurde gewählt, wurden neue Wort/Bild Analogien gefunden?

    Wird nur das Problem illustriert oder die Lösungsaufforderung?

    Besteht die gesamte Arbeit nur aus Schlagworten oder auch aus eigenem Inhalt?

    Haben die guten Sitten Vorrang vor einer Eitelkeit gestalterischer Originalität?

    Ist das Plakat potenziell empowernd für minorisierte Menschen?

     

    um nur einige zu nennnen.

     

    Sie kritisiersen den Kunstmarkt als Feld, das von weißen Männern dominiert wird. Das heißt auch, dass Künstler*innen, die nicht in das Schema passen, die besondere Erfahrungen leben, sich einer besonderen Verletzbarkeit aussetzen. Was bedeutet es, sich als Künstler*in in diesem vermachteten Kontext zu exponieren und einer Bewertung auszusetzen? Und was bedeutet Empowerment vor diesem Hintergrund?

     

    Ich habe größten Respekt davor, dass die Teilnehmenden sich sehenden Auges in eine Situation begeben haben, in der ihre Arbeit bewertet wird von Menschen, die sie nicht kennen, und von denen sie nicht annehmen können, dass sie ordentliche Kriterienkataloge entwickelt haben oder die gezeigten Motive überhaupt nachvollziehen können. Das ist ein großer Vertrauensvorschuss, und als Geschenk zu betrachten. Ich kann auch alle sehr gut verstehen, die sich einer solchen Beurteilung nicht aussetzen wollten.
    Erst einmal finde ich es wichtig, zu unterscheiden zwischen Kunstmarkt und Kunst. Kunst ist gottseidank nicht nur der Galerien- und Museenzirkus.
    Diejenigen, die strukturell aus dem herkömmlichen Kunstfeld ausgeschlossen werden, können sich bewusst machen, dass Kunst auch einen Selbstzweck hat für uns und unsere Communities. Zu oft schwingt bei kreativen Arbeiten Minorisierter mit, dass wir etwas anschaulich machen, erklären oder vereinfachen müssten und uns an die Mehrheitsgesellschaft richten sollen. Das bedeutet aber oft, dass wir uns selbst als Publikum vernachlässigen. Ich bin dafür, diese klassischen Zuwendungsansprüche nicht mitzumachen und stattdessen sich gut zu überlegen „für wen mache ich das?“, „Wen will ich mit meinen Bildern ansprechen?“, „Mit wem beschäftige ich mich tagelang?“, „Wer erhält dadurch meine Zuwendung?“…
    Kunst hat unglaublich viel Power. Kunst kann Gefühle konservieren und abrufen. Kunst kann Situationen festhalten, für die es keine Worte gibt. Kunst kann durch Codes Menschen auf der ganzen Welt miteinander verbinden. Kunst kann heilen und trösten und mich und andere dadurch am Leben erhalten. Kunst kann auch eine Atombombe sein. Kunst kann sehr, sehr viel. Deswegen wäre mein Vorschlag, Kunst zuallererst zur eigenen Stärkung zu betreiben. Zum Genuss und als Ventil. Junge Kunstschaffende, die diskriminiert werden, sollen wissen, dass sie ihre Kunst beschützen dürfen. Damit nicht ihre Arbeit als Hebel benutzt wird, sie kleinzunörgeln oder kulturalistisch fremdzudeuten. Viele Menschen beunruhigt es, wie machtvoll superkulturelle junge Menschen sich künstlerisch äußern. Meine Botschaft ist: Kunst ist frei. ihr dürft, sollt das ausschöpfen. Es darf nicht unterschätzt werden, wie sehr die Freiheit von marginalisierten Menschen oft sanktioniert wird. Das passiert selbstverständlich auch in der Kunst. Die Freiheit der Selbstzuwendung, die Freiheit des ungefilterten Feedback, die Freiheit, nachlässig zu sein oder brillant zu sein. Macht Kunst für die und mit denen, die Euch das gönnen. Kunst braucht keine Erlaubnis. Sie gehört Euch bereits. Spielt mit ihr, und schaut auch nach den tollen Werken, die Menschen machen, die Eure Erfahrungen teilen. Das Internet ist voll davon. Und dann schickt mir einen Link, ich will es auch sehen! (lacht)

     

    Die Fragen stellte Eva Berendsen.

    Erschienen im September 2015 in: other stories. Perspektiven der Bildungsstätte Anne Frank. 01/2015. Hrsg.: Meron Mendel, Bildungsstätte Anne Frank[:en]zur Jurymitgliedschaft beim Plakatwettbewerb „Mensch, Du hast Recht(e)!“ (inzwischen ein mobiles Lernlabor) der Bildungsstätte Anne Frank